October 19, 2009

Der Schrei zu Gott


Wo war Gott in jenen Tagen?

Wir können in Gottes Geheimnis nicht hineinblicken – wir sehen nur Fragmente und vergreifen uns, wenn wir uns zum Richter über Gott und die Geschichte machen wollen. Dann würden wir nicht den Menschen verteidigen, sondern zu seiner Zerstörung beitragen. Nein – im letzten müssen wir bei dem demütigen, aber eindringlichen Schrei zu Gott bleiben: Wach auf! Vergiß dein Geschöpf Mensch nicht! Und unser Schrei an Gott muß zugleich ein Schrei in unser eigenes Herz hinein sein, daß in uns die verborgene Gegenwart Gottes aufwache – daß seine Macht, die er in unseren Herzen hinterlegt hat, nicht in uns vom Schlamm der Eigensucht, der Menschenfurcht und der Gleichgültigkeit, des Opportunismus verdeckt und niedergehalten werde.
Wir stoßen diesen Ruf an Gott, diesen Ruf in unser eigenes Herz hinein, gerade auch in dieser unserer gegenwärtigen Stunde aus, in der neue Verhängnisse drohen, in der neu alle dunklen Mächte aus dem Herzen des Menschen aufzusteigen scheinen – auf der einen Seite der Mißbrauch Gottes zur Rechtfertigung blinder Gewalt gegen Unschuldige, auf der anderen Seite der Zynismus, der Gott nicht kennt und den Glauben an ihn verhöhnt.
Wir rufen zu Gott, daß er die Menschen zur Einsicht bringe, damit sie erkennen, daß Gewalt keinen Frieden stiftet, sondern nur wieder Gewalt hervorruft – eine Spirale der Zerstörungen, in der alle am Ende nur Verlierer sein können. Der Gott, dem wir glauben, ist ein Gott der Vernunft – einer Vernunft, die freilich nicht neutrale Mathematik des Alls, sondern eins mit der Liebe, mit dem Guten ist. Wir bitten Gott, und wir rufen zu den Menschen, daß diese Vernunft, die Vernunft der Liebe, der Einsicht in die Kraft der Versöhnung und des Friedens die Oberhand gewinne inmitten der uns umgebenden Drohungen der Unvernunft oder einer falschen, von Gott gelösten Vernunft. [...] All diese Gedenksteine künden von menschlichem Leid, lassen uns den Zynismus der Macht ahnen, die Menschen als Material behandelte und sie nicht als Personen anerkannte, in denen Gottes Ebenbild aufleuchtet. [...]

Die Machthaber des Dritten Reiches wollten das jüdische Volk als ganzes zertreten, es von der Landkarte der Menschheit tilgen – auf furchtbare Weise haben sich da die Psalmworte bestätigt: "Wie Schafe werden wir behandelt, die zum Schlachten bestimmt sind." Im tiefsten wollten jene Gewalttäter mit dem Austilgen dieses Volkes den Gott töten, der Abraham berufen, der am Sinai gesprochen und dort die bleibend gültigen Maße des Menschseins aufgerichtet hat. Wenn dieses Volk einfach durch sein Dasein Zeugnis von dem Gott ist, der zum Menschen gesprochen hat und ihn in Verantwortung nimmt, so sollte dieser Gott endlich tot sein und die Herrschaft nur noch dem Menschen gehören – ihnen selber, die sich für die Starken hielten, die es verstanden hatten, die Welt an sich zu reißen. Mit dem Zerstören Israels, mit der Schoah, sollte im letzten auch die Wurzel ausgerissen werden, auf der der christliche Glaube beruht und endgültig durch den neuen, selbstgemachten Glauben an die Herrschaft des Menschen, des Starken, ersetzt werden. [...]
Es war mir eine innere Pflicht, auch vor dem Gedenkstein in deutscher Sprache besonders innezuhalten. Von dort tritt das Gesicht von Edith Stein, Theresia Benedicta vom heiligen Kreuz, auf uns zu – Jüdin und Deutsche, die zusammen mit ihrer Schwester im Grauen der Nacht des nazideutschen Konzentrationslagers verschwunden ist, die als Christin und als Jüdin mit ihrem Volk und für ihr Volk sterben wollte. Die Deutschen, die damals nach Auschwitz-Birkenau verbracht wurden und hier gestorben sind, wurden als Abschaum der Nation hingestellt. Aber nun erkennen wir sie dankbar als die Zeugen der Wahrheit und des Guten, das auch in unserem Volk nicht untergegangen war. Wir danken diesen Menschen, daß sie sich der Macht des Bösen nicht gebeugt haben und so als Lichter in einer dunklen Nacht vor uns stehen. Wir beugen uns in Ehrfurcht und Dankbarkeit vor all denen, die wie die drei Jünglinge angesichts der Drohung des babylonischen Feuerofens geantwortet haben: "Wenn überhaupt jemand, so kann nur unser Gott [...] uns retten. Tut er es aber nicht, so sollst du, König, wissen, auch dann verehren wir deine Götter nicht und beten das goldene Standbild nicht an, das du errichtet hast" (Dan 3:17 f.). [...]

Gottlob wachsen im Umkreis dieser Stätte des Grauens mit der Reinigung des Gedächtnisses, zu der sie uns drängt, vielfältige Initiativen, die dem Bösen eine Grenze setzen, dem Guten Kraft geben wollen. Eben durfte ich das Zentrum für Dialog und Gebet segnen. Ganz nah dabei vollzieht sich das verborgene Leben der Karmelitinnen, die sich besonders dem Geheimnis des Kreuzes Christi verbunden wissen und uns an den Glauben der Christen erinnern, daß Gott selbst in die Hölle der Leiden abgestiegen ist und mit uns leidet. In Oswiecim besteht das Zentrum des heiligen Maximilian und das Internationale Zentrum für die Erziehung über Auschwitz und den Holocaust. Es gibt das Internationale Haus für Jugendbegegnungen. Bei einem der alten Gebetshäuser besteht das Jüdische Zentrum. Schließlich ist die Akademie für die Menschenrechte im Aufbau begriffen. So dürfen wir hoffen, daß aus dem Ort des Grauens Besinnung wächst und daß das Erinnern hilft, dem Bösen zu widerstehen und der Liebe zum Sieg zu verhelfen.
Die Menschheit hat in Auschwitz-Birkenau eine "finstere Schlucht" durchschritten. So möchte ich gerade an dieser Stelle mit einem Gebet des Vertrauens schließen – einem Psalm Israels, der zugleich ein Gebet der Christenheit ist: "Der Herr ist mein Hirte, nichts wird mir fehlen. Er läßt mich lagern auf grünen Auen und führt mich zum Ruheplatz am Wasser. Er stillt mein Verlangen, er leitet mich auf rechten Pfaden, treu seinem Namen. Muß ich auch wandern in finsterer Schlucht, ich fürchte kein Unheil, denn du bist bei mir, dein Stock und dein Stab geben mir Zuversicht [...] Im Haus des Herrn darf ich wohnen für lange Zeit" (Ps 23:1-4,6).


The cry to God


Where was God in those days?

We cannot peer into God's mysterious plan – we see only piecemeal, and we would be wrong to set ourselves up as judges of God and history. Then we would not be defending man, but only contributing to his downfall. No – when all is said and done, we must continue to cry out humbly yet insistently to God: Rouse yourself! Do not forget mankind, your creature! And our cry to God must also be a cry that pierces our very heart, a cry that awakens within us God's hidden presence – so that his power, the power he has planted in our hearts, will not be buried or choked within us by the mire of selfishness, pusillanimity, indifference or opportunism.
Let us cry out to God, with all our hearts, at the present hour, when new misfortunes befall us, when all the forces of darkness seem to issue anew from human hearts: whether it is the abuse of God's name as a means of justifying senseless violence against innocent persons, or the cynicism which refuses to acknowledge God and ridicules faith in him.
Let us cry out to God, that he may draw men and women to conversion and help them to see that violence does not bring peace, but only generates more violence – a morass of devastation in which everyone is ultimately the loser. The God in whom we believe is a God of reason – a reason, to be sure, which is not a kind of cold mathematics of the universe, but is one with love and with goodness. We make our prayer to God and we appeal to humanity, that this reason, the logic of love and the recognition of the power of reconciliation and peace, may prevail over the threats arising from irrationalism or from a spurious and godless reason. […] All these inscriptions speak of human grief, they give us a glimpse of the cynicism of that regime which treated men and women as material objects, and failed to see them as persons embodying the image of God. […]

The rulers of the Third Reich wanted to crush the entire Jewish people, to cancel it from the register of the peoples of the earth. Thus the words of the Psalm: "We are being killed, accounted as sheep for the slaughter" were fulfilled in a terrifying way. Deep down, those vicious criminals, by wiping out this people, wanted to kill the God who called Abraham, who spoke on Sinai and laid down principles to serve as a guide for mankind, principles that are eternally valid. If this people, by its very existence, was a witness to the God who spoke to humanity and took us to himself, then that God finally had to die and power had to belong to man alone – to those men, who thought that by force they had made themselves masters of the world. By destroying Israel, by the Shoah, they ultimately wanted to tear up the taproot of the Christian faith and to replace it with a faith of their own invention: faith in the rule of man, the rule of the powerful. […]
I felt a deep urge to pause in a particular way before the inscription in German. It evokes the face of Edith Stein, Theresia Benedicta a Cruce: a woman, Jewish and German, who disappeared along with her sister into the black night of the Nazi-German concentration camp; as a Christian and a Jew, she accepted death with her people and for them. The Germans who had been brought to Auschwitz-Birkenau and met their death here were considered as Abschaum der Nation – the refuse of the nation. Today we gratefully hail them as witnesses to the truth and goodness which even among our people were not eclipsed. We are grateful to them, because they did not submit to the power of evil, and now they stand before us like lights shining in a dark night. With profound respect and gratitude, then, let us bow our heads before all those who, like the three young men in Babylon facing death in the fiery furnace, could respond: "Only our God can deliver us. But even if he does not, be it known to you, O King, that we will not serve your gods and we will not worship the golden statue that you have set up" (Dan 3:17 f.).

By God's grace, together with the purification of memory demanded by this place of horror, a number of initiatives have sprung up with the aim of imposing a limit upon evil and confirming goodness. Just now I was able to bless the Centre for Dialogue and Prayer. In the immediate neighbourhood the Carmelite nuns carry on their life of hiddenness, knowing that they are united in a special way to the mystery of Christ's Cross and reminding us of the faith of Christians, which declares that God himself descended into the hell of suffering and suffers with us. In Oświęcim is the Centre of Saint Maximilian Kolbe, and the International Centre for Education about Auschwitz and the Holocaust. There is also the International House for Meetings of Young people. Near one of the old Prayer Houses is the Jewish Centre. Finally the Academy for Human Rights is presently being established. So there is hope that this place of horror will gradually become a place for constructive thinking, and that remembrance will foster resistance to evil and the triumph of love.
At Auschwitz-Birkenau humanity walked through a "valley of darkness". And so, here in this place, I would like to end with a prayer of trust – with one of the Psalms of Israel which is also a prayer of Christians: "The Lord is my shepherd, I shall not want. He makes me lie down in green pastures. He leads me beside still waters. He restores my soul. He leads me in right paths for his name's sake. Even though I walk through the valley of the shadow of death, I fear no evil. For you are with me, your rod and your staff – they comfort me ... I shall dwell in the house of the Lord my whole life long" (Ps 23:1-4,6).

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